Den Riesen wecken
Der Großhandel erzielte im Jahr 2023 mit seinen rund 2 Mio. Beschäftigten in rund 135.000 Unternehmen einen Umsatz in Höhe von ca. 1,7 Bill. EUR. Damit ist der Großhandel wirtschaftlich gesehen ein Riese. Etwa jede fünfte Transaktion in unserer Wirtschaft läuft über den Großhandel. Aufgrund dieser zentralen, verbindenden Stellung in den Wertschöpfungsketten wird der Großhandel daher häufig als „Scharnier“ oder auch als „Rückgrat“ für die deutsche Wirtschaft bezeichnet. Allerdings wird beim Großhandel teilweise auch vom „unbekannten Riesen“ gesprochen, weil der Großhandel für die Wirtschaft zwar sehr bedeutend, aber meist wenig sichtbar ist. So vertreibt er die Produkte großer, bekannter Marken, bleibt aber selbst häufig im Hintergrund – vor allem bleibt er für den Endkunden vielfach unsichtbar, der mit Ausnahme von Sanitär- und Bauelementeausstellungen sowie den großen Cash-&Carry-Märkten (u.a. Metro, Selgros) kaum Berührungen mit dem Großhandel hat.
In der Forschung jedoch ist der Großhandel bis zum heutigen Tag kein Riese, sondern eher ein Zwerg. Den regelmäßigen Erhebungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW in Mannheim zufolge betrugen die Aufwendungen der Großhandelsunternehmen für Forschung und Entwicklung (FuE) im Durchschnitt gerade mal 0,1 % vom Umsatz. Im Vergleich dazu gaben die Unternehmen in Deutschland für Forschung und Entwicklung im Mittel ganze 2,1 % vom Umsatz aus. In Branchen wie der Elektroindustrie, dem Maschinenbau oder im Bereich Chemie/Pharma erreichen die Unternehmen bei den Ausgaben für FuE sogar Durchschnittswerte von deutlich mehr als 3 % gemessen am Umsatz (Bild 1).
Ausgaben für Forschung und Entwicklung lassen sich als Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit von morgen interpretieren. Wer heute nicht das nötige Know-How aufbaut, das für die Gestaltung der Wertschöpfungsketten von morgen benötigt wird, wird zukünftig in der Wirtschaft tendenziell eine geringere Rolle spielen und auch weniger Marktanteile besitzen.
Besonders deutlich wird der Abstand des Großhandels bei den FuE-Ausgaben im Vergleich mit Unternehmen auf internationaler Ebene. Die Tabelle zeigt laut dem aktuellen Bericht der Europäischen Kommission „EU Industrial R&D Investment Scoreboard 2023“ für ausgewählte Unternehmen die absoluten FuE-Ausgaben sowie in Relation zum Umsatz. Demnach geben die drei TOP-Player mit den größten FuE-Budgets Amazon, Alphabet und Microsoft zwischen 12,8-14,2 % ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus. Addiert man die absoluten FuE-Ausgaben aller 135.000 Großhandelsunternehmen in Deutschland zusammen, so kämen diese in Summe mit rund 1,7 Mrd. EUR gerade einmal auf Platz 130 dieses Rankings. Dies bedeutet, dass 129 Unternehmen einzeln jeweils mehr in FuE investieren als der komplette deutsche Großhandel zusammen. Im Verhältnis zum Umsatz gesehen investieren die in Bild 2 dargestellten Unternehmen sogar das 66- bis 142-fache.
Natürlich ist der Großhandel keine typische Hochtechnologiebranche. Dennoch muss es zu denken geben, dass Unternehmen wie Amazon, Alibaba und PDD (dies ist der Mutterkonzern von Temu) so viel stärker in Forschung und Entwicklung investieren, da die genannten Unternehmen ebenfalls stark im Handelsgeschäft tätig sind. Amazon und Alibaba werden zwar in der Statistik als Software-Unternehmen geführt, betreiben jedoch zwei der weltweit bekanntesten und dominierenden B2B-Handelsplattformen. Allein Amazon hat in den vergangenen 20 Jahren Geschäftsmodelle und Prozesse in Handel und Logistik an vielen Stellen für jeden sichtbar revolutioniert und neue Standards gesetzt.
Das B2B-Marktpotenzial übersteigt den B2C-Markt bei weitem. Deshalb dürfte das Interesse auch der großen Tech-Konzerne am B2B-Markt langfristig geweckt sein, um sich ein großes „Stück von diesem Kuchen“ zu sichern. Was allerdings besonders gravierend ist: die „Schere“ bei den FuE-Investitionen geht seit Jahren immer weiter auseinander. Lagen die absoluten FuE-Ausgaben von Amazon in Euro gerechnet im Jahr 2015 noch rund 6-mal so hoch wie die aller Großhandelsunternehmen zusammen, reinvestiert Amazon mit geschätzten 73,2 Mrd. EUR im Jahr 2022 inzwischen mehr als 40-mal so viel.
Doch auch wenn die bisherigen Ausführungen die These der Unterrepräsentation des Großhandels in der Forschung hinreichend bestätigt haben. Worin liegt eigentlich die Notwendigkeit für mehr Forschung im Großhandel?
Synergien können kaum gehoben werden
Digitalisierung und Plattformökonomie ermöglichen in vielen Bereichen exponentielles Wachstum, führen zur Erosion bisher wirksamer Alleinstellungsmerkmale (USPs) traditioneller Wettbewerber und langfristig zur Disruption kompletter Geschäftsmodelle bzw. Branchen. Insbesondere beim Einsatz innovativer Technologien wie Künstliche Intelligenz, Big Data oder Sichere Datenräume kommen die Unternehmen des stark mittelständisch geprägten Großhandels im Vergleich zu Großunternehmen relativ schnell an ihre Grenzen. Vielfach fehlt es an Personal mit den entsprechenden Kompetenzen und Synergien können aufgrund der geringen Unternehmensgröße kaum gehoben werden.
Forschung kann hier seine positiven Wirkungen entfalten: in gemeinsamen Projekten von Großhandelsunternehmen mit Hochschulen, Instituten und Forschungseinrichtungen können anwendungsorientiert Innovationen erforscht und in der Praxis erprobt werden. Bei passenden Fragestellungen können auch mehrere Großhändler gemeinsam an Lösungen forschen, um Synergien zu heben. Die Kooperation mit Hochschulen und Forschungsinstituten schafft wiederrum öffentlichkeitswirksame Ergebnisse und ermöglicht Zugang zu hochqualifizierten, potenziellen Mitarbeitern – nicht zuletzt mit IT-Bezug. Damit entsteht potenziell ein Schwungrad für die Akteure aus Großhandel und Forschung mit positiven Multiplikatoreffekten für Beschäftigte, Unternehmer und Gesellschaft.
Bild 3 gibt einen Überblick über relevante Forschungsfelder im Großhandel, die nahezu vollständig auch für den Technischen Handel relevant sind. Der Einsatz innovativer Technologien bietet hier eine Fülle an Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Allein der Bereich Künstliche Intelligenz mit Dutzenden an unterschiedlichen Anwendungsfällen wird in den mehr als 70 Branchen des Großhandels potenziell zu einer Matrix mit letztlich hunderten an unterschiedlichen und teilweise aufeinander aufbauenden Forschungsprojekten in den kommenden Jahren führen.
Darüber hinaus werden auch nicht Technologie-orientierte Themen eine wichtige Rolle spielen: bislang noch weitgehend ungelöste Fragestellungen bestehen beispielsweise im Hinblick auf die erfolgreichen Geschäftsmodelle der Zukunft, der weiteren Entwicklung der Vertriebskanäle oder der zukünftigen Rolle des Großhandels in den Wertschöpfungsketten. Ebenso sind die Märkte des Großhandels nur in Ansätzen untersucht und die Entwicklungen insbesondere im internationalen Kontext wenig transparent.
Lange fehlte es für mehr Forschung im Großhandel an notwendiger Forschungsinfrastruktur. Ein großer Schritt nach vorne konnte hier in den letzten Jahren mit der Gründung der Forschungsvereinigung Großhandel ForveG e.V. gemacht werden. Ansässig beim BGA in Berlin wird über die ForveG Forschung für den Großhandel inhaltlich koordiniert und institutionell vorangetrieben. Im laufenden Jahr wurden die ersten beiden Vorhaben „BIT-GH“ und „HoPP-KI“ als Langanträge beim Projektträger DLR eingereicht. Im Vorhaben „BIT-GH“ wollen die Forschungsstellen Fraunhofer IIS, IFH Köln und ibi Regensburg ein Technologieradar für den Großhandel entwickeln, in dem die wichtigsten Technologien mit ihren relevanten Use Cases nach Großhandelssektoren identifiziert und im Sinne einer Forschungsroadmap priorisiert werden. Im Projekt „HoPP-KI“ wollen Fraunhofer IIS und die Technische Hochschule Nürnberg ein Modell zur Prognose von Holzpreisen auf Basis von neuronalen Netzen entwickeln. Weitere Forschungsprojekte sind in Planung. Die ForveG ist darüber hinaus offen für neue Ideen und Forschungsvorhaben sowie für weitere Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die sich zukünftig gerne beteiligen wollen.
Technischer Handel ist mit VTH Vorreiter
In Deutschland existieren aktuell mehr als 100 Forschungsvereinigungen. Die meisten von ihnen wurden von der Industrie in den 1950er Jahren gegründet. Beispiele wie die Forschungsvereinigung der Textilindustrie FKT zeigen, dass über diesen Weg mehr als 100 Forschungshaben pro Jahr koordiniert und über das Bundeswirtschaftsministerium auch öffentlich gefördert werden können. Es wäre wünschenswert, wenn dies mittelfristig auch im Großhandel Realität wird. Der VTH als Verband hat sich an der ForveG-Initiative von Beginn an aktiv beteiligt. Damit gehört der Technische Handel, wie in vielen anderen Feldern auch, zu den Vorreitern im Großhandel. Es werden allerdings noch viele weitere Unterstützer, eine Menge Arbeit und vor allem deutlich steigende FuE-Budgets benötigt, um das Ziel von signifikant mehr Forschung im Großhandel in absehbarer Zeit auch tatsächlich zu erreichen.
Dies führt letztlich zur Frage, was als ein sinnvolles Ziel für die FuE-Ausgaben des Großhandels anzusehen ist. Im ersten Schritt erscheint der ermittelte Durchschnitt von 2,1% gemessen am Umsatz als logische Schlussfolgerung (vgl. Bild 1). Dies entspräche FuE-Ausgaben des Großhandels p.a. in Höhe von 35,7 Mrd. EUR (aktuell 1,7 Mrd. EUR).
Allerdings ist an dieser Stelle berechtigt einzuwenden, dass bei Handelsunternehmen der Umsatz pro Mitarbeiter im Durchschnitt doppelt bis dreimal so hoch ist im Vergleich zu Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes oder auch im Vergleich zu Logistikdienstleistern. Dieser Umstand resultiert aus der geringeren Wertschöpfung des Handels im Vergleich zu den anderen Branchen der ZEW-Innovationserhebung, die dadurch immer zu Ungunsten des Großhandels leicht verzerrt ist. Es erscheint daher als fairer Ansatz, für den Großhandel anstelle des Umsatzes den Rohertrag als Bemessungsgrundlage heranzuziehen. 2,1% gemessen am Rohtrag des Großhandels in Höhe von in Summe 327 Mrd. EUR (= 19,2 % vom Umsatz[1]) entspräche FuE-Ausgaben des Großhandels p.a. in Höhe von 6,9 Mrd. EUR.
Diese Größenordnung (2,1 % vom Rohertrag) sollte langfristig das ambitionierte Ziel sein. Da müssen wir hin! Und das sowohl für den Großhandel gesamt, als auch auf Ebene des Technischen Handels als Branche sowie für jedes einzelne Großhandelsunternehmen. Mit diesem Ziel kann jeder leicht selbst überprüfen, ob bereits genug in die Zukunft investiert wird oder doch besser noch etwas nachgelegt werden sollte.
Autor
Prof. Dr. Heiko Wrobel ist seit 2017 Professor für Logistik, Großhandel und allg. BWL an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm und hat dort seit 2022 zudem eine Forschungsprofessor für „Digitale Transformation des Großhandels“ inne. Darüber hinaus ist er seit 2017 Geschäftsfeldkoordinator Großhandel / B2B an der Arbeitsgruppe für Supply Chain Services (SCS) des Fraunhofer IIS in Nürnberg, wo seit 1997 in verschiedenen Positionen tätig ist; Heiko Wrobel ist Mitglied im Arbeitskreis Digitalisierung des BGA sowie Mitglied im Förderbeirat der Forschungsvereinigung Großhandel ForveG e.V. Kontakt unter: heiko.wrobel@th-nuernberg.de, www.th-nuernberg.de |
[1] Vgl. Destatis, Großhandelsstatistik WZ08-46, abgerufen am 27.03.2024
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