Vor allem Vehikel für Kundenbedürfnisse

"Können wir die digitale Transformation bestehen?" – manch einer fragt sich dies sorgenvoll. Unbestritten, das Thema ist komplex, aber es bietet gute Möglichkeiten, auch im Kleinen Neues auszuprobieren. Für viele Themen lässt sich auf bestehende Lösungen aufsetzen. TH sprach mit den beiden Digitalisierungsexperten Gero Becker und Matthias Steitz. Eine ihrer Kernbotschaften: Digitalisierung kann nur gelingen, wenn man sich intensiv damit beschäftigt.

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Vieles was Digitalisierungsexperten wie Sie dem Fachhandel empfehlen, klingt für nicht in die Thematik so tief verwurzelte Menschen nach „Quadratur des Kreises“. Wie können es die Händler schaffen, angesichts des Bergs an Arbeit, den der digitale Wandel mit sich bringt, und der Komplexität des Themas, nicht resignativ zu werden?

Becker: Wir erleben in der Tat sehr häufig, dass uns am Anfang eines Projekts eine gewisse Ohnmacht entgegenschlägt, auch angesichts der neuen Themen, die im Umfeld der Digitalisierung in den Vordergrund rücken, z.B. Blockchain oder Künstliche Intelligenz. Meine Empfehlung lautet, sich nicht grundsätzlich der Thematik zu verschließen, weil man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Wenn man einen Schritt nach dem anderen geht, kann man für sich die einzelnen Themen erschließen. Das ist einer der Vorteile des weiten Felds der Digitalisierung, dass man das gut tun kann. Hinzu kommt, dass man schnell Sachen ausprobieren, sich an Lösungen herantasten und lernen kann. Man muss nicht zwangsläufig jahrelange Projekte aufsetzen.

Ist es besser, sich aus dem weiten Feld der Digitalisierung erst einmal den Themen zu widmen, bei denen man sich relativ sicher fühlt, sie mit eigenen Mitteln in die Wege zu leiten, als sich gezielt eine spezielle Aufgabe vorzunehmen, die von außen empfohlen wird?

Becker: Man sollte sich auf jeden Fall nicht zum Ziel setzen, das Thema Digitalisierung in Gänze auf einen Schlag adressieren zu können, sondern sich fragen, mit welchen Mitteln kann ich Mehrwerte für die eigenen Kunden erzielen. Und das können oft auch kleinere Schritte sein. Nichts desto trotz sollte man einen Plan vor Augen haben und schauen, wohin die Reise gehen soll. Kernfragestellungen wie „Was bedeuten die Änderungen für mein Geschäftsmodell?“, „Was will ich unseren Kunden anbieten?“ sollten am Anfang stehen. Wichtig ist es, den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen: „Was kann ich unseren Kunden Gutes tun?“ Das ist sicher die einfachere Fragestellung als jedem Buzzword, das im Digitalisierungskontext durchs Dorf getrieben wird, hinterherzulaufen. Digitalisierung sollte in erster Linie ein Vehikel sein, um Kundenbedürfnisse besser befriedigen zu können.

Ist die Frage, wie man sich für den Wettbewerb rüstet, nicht immer vor allem eine Frage der Investitionsmöglichkeiten? Muss es da heute eine Verschiebung der Gewichtung hin zur Digitalisierung geben?

Becker: Natürlich ist Veränderung im Digitalisierungskontext auch immer mit Investitionen verbunden. Gerade im Großhandel auf B2B-Ebene kann man heute noch eine vergleichsweise gute Situation beobachten. Dies sollte als Chance gesehen und investiert werden, damit man sich mit dem Wettbewerb mitentwickeln kann und nicht irgendwann hinterherrennt, weil man den richtigen Zeitpunkt verpasst hat.

Die zuletzt vergleichsweise gute Auftragslage der Branche hat zu vielen personellen Engpässen geführt, so dass der Handel froh sein konnte, wenn er sein Alltagsgeschäft vernünftig abarbeiten konnte. Würden Sie angesichts dieser Lage trotzdem dazu raten, die Kräfte eher in Richtung Digitalisierung zu konzentrieren?

Becker: Dazu würde ich auf jeden Fall raten. Nach dem Motto zu handeln: „Wir haben keine Zeit für Digitalisierung und warten mal ab“, wäre sicher der falsche Weg. Der Blick in die Zukunft sollte gerade auf diesem Feld ernst genommen werden, um nicht von einer gegebenenfalls einsetzenden Dynamik überrascht zu werden. In den verschiedenen B2C-Märkten konnte man in der Vergangenheit beobachten, dass es oft schnelle Veränderungen gab. Im Gegensatz zur analogen gibt es in der digitalen Welt oft rasante Entwicklungen, gerade wenn man an die Plattformökonomie denkt, wo es teilweise ein exponentielles Wachstum gab.

Im B2B-Bereich konnten wir, gerade in letzter Zeit, eine hohe Bereitschaft zu Digitalisierungs-Aktivitäten beobachten, im Gegensatz zum lange, teils sehr trägen B2C-Bereich, für den wir auch als IFH viel Überzeugungsarbeit leisten mussten.

Das Beziehungsverhältnis zwischen Hersteller und Händler ist im Technischen Handel sehr wichtig. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Ich habe den Eindruck, dass die Beziehungen in letzter Zeit im Zuge der Digitalisierung leiden. Teilen Sie diese Einschätzung und wenn ja, sehen Sie Chancen, dass es durch geschickte Rollenverteilung besser werden kann?

Becker: Absolut! Wir haben uns diesem Thema intensiv gewidmet. Die Verschlechterung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Hersteller im Zuge der Digitalisierung über bessere Direktvertriebsmöglichkeiten verfügen und damit zumindest potenziell vermehrt zum Wettbewerb des Händlers werden. Für die Hersteller bietet die Digitalisierung die Chance, direkt mit den Endkunden in Kontakt zu treten. Das ist auch wichtig; der breitangelegte Direktvertrieb sollte aus unserer Sicht aber nicht im Fokus der Überlegungen stehen, sondern vielmehr die Möglichkeiten, zusammen bessere Lösungen zum Nutzen der Kunden kreieren zu können. Hersteller werden auch mit Fortschreiten der Digitalisierung nicht alle Funktionen übernehmen können, sondern werden auch künftig auf die Expertise und Möglichkeiten des Fachgroßhandels angewiesen sein.

Hersteller und Händler sollten miteinander genau definieren, wer welche Aufgaben übernimmt. So hat insbesondere im Zusammenhang mit der Digitalisierung das Thema Produktdaten einen immensen Stellenwert, wobei Hersteller und Händler sehr eng miteinander agieren müssen. Es wäre fatal, wenn sich an der Stelle die Beziehungen zwischen beiden Wertschöpfungsstufen verschlechtern. Stammdaten sind das Fundament der Digitalisierung.

Produktionsverbindungshändler müssen sich über die klassischen Handelsfunktionen hinaus noch stärker als Serviceanbieter positionieren. Worauf kommt es dabei an, wie kann das am besten gelingen?

Becker: Einfach nur das Angebot der Hersteller und die Nachfrage der Kunden im Groß- und Fachhandel zusammenzubringen, wird in Zukunft nicht mehr ausreichen. Für diejenigen Geschäftsmodelle, die sich davon nicht ausreichend abheben können, für die wird es zunehmend schwer. Neben der intensiven Beratung geht es dabei auch um digitale Services, mit denen der Fachhandel seinen Kunden hilft, einfacher, effizienter und komfortabler beschaffen zu können. Die Prozesse der Kunden, beispielsweise in der Logistik, sollten so komfortabel gestaltet sein, dass man sich deutlich von reinen digitalen Plattformen unterscheiden kann.

Herr Steitz, wie stellt sich die Thematik aus Sicht des ERP-Anbieters dar?

Steitz: Wir stellen auch fest, dass viele Kunden nach Lösungen suchen. Wir können zwar auch fertige ERP-Lösungen bieten, aber eigentlich ist es für die Händler ein Entwicklungsprozess. Es gibt künftig zwei entscheidende Säulen: Kunden- und Artikeldaten. Wenn man beides gut beherrscht, dann kann man ein erfolgreiches Geschäft betreiben.

Es werden deutliche Unterschiede sichtbar: Auf der einen Seite gibt es Kunden, die sich schon vor einiger Zeit des Themas angenommen haben und erste Erfolge ihrer Bemühungen erleben können und andere Kunden nähern sich dem Thema erst jetzt an. Wichtig ist es, sich mit den Prozessen zu beschäftigen, sowohl mit den eigenen als auch mit denen des Kunden. Nur so kann man gegenüber dem Wettbewerb Alleinstellungsmerkmale erreichen. Die Softwarelösungen bilden diese Anforderungen heute ab, so dass sich der Kunde beispielsweise nicht mehr um das Schnittstellenmanagement kümmern muss. An der Stelle sehen wir uns als Problemlöser für den Technischen Handel, um den Übergang so reibungslos wie möglich hinzubekommen.

Wir erleben es leider noch häufig, dass viele Sachen von Hand gemacht werden. Über das papierlose Büro reden wir seit 25 Jahren, trotzdem ist der Papierverbrauch stetig gewachsen. Jetzt reden wir über Digitalisierung, die aber nur gelingen kann, wenn man sich intensiv damit beschäftigt.

Heißt das auch, dass man viel Geld in ERP-Lösungen investieren muss oder gibt es auch geeignete kleinere Lösungen?

Steitz: ERP heißt nicht, dass man dabei immer über komplexe Lösungen reden muss. Entscheidend ist, dass die Zahnräder ineinandergreifen. Wir haben darauf reagiert indem wir passende Pakete geschnürt haben, die den Bedürfnissen verschiedener Kundengruppen entsprechen.

In ERP investieren heißt nicht immer automatisch viel Geld ausgeben. Es bedeutet vor allem, auch in Zeit zu investieren; Zeit die es braucht, um sich seiner Prozesse zu vergegenwärtigen und wie sie künftig gestaltet sein müssen, um im Wettbewerb mithalten zu können.

Derzeit gibt es den Trend, das bestehende und neue Systeme miteinander verknüpft werden.

Becker: Es ist nicht so, dass der Fachhandel allein vor der Ehrfurcht auslösenden Aufgabe der Digitalisierung steht. Neben den zuvor von mir genannten Kooperationsmodellen kommt hinzu, dass es für diverse Themen passende Partner gibt, die mit Expertenwissen unterstützen können. Sehr häufig lässt sich auf bestehende Lösungen aufsetzen. An der Stelle ist der B2B-Bereich heute im Vorteil gegenüber dem B2C-Bereich vor einigen Jahren.

Im Technischen Handel wird das Thema Preise schon immer sehr sensibel betrachtet. Der Markt ist im Zuge der Digitalisierung deutlich transparenter geworden. Wie kann es gelingen, Erlösströme abseits der Handelsmarge zu erschließen?

Becker: Wessen Geschäftsmodell auf Intransparenz basiert, der wird in Zukunft erhebliche Probleme haben. Digitalisierung heißt Transparenz. Deshalb muss man sich fragen, ob Mischkalkulationen auch zukünftig noch aufrechterhalten werden können. Aber richtig ist auch, dass es darauf keine einfache Antwort gibt.

Steitz: Der Technische Handel bietet heute schon viele Services, die er aber nicht in den Vordergrund stellt, die ihn aber deutlich von anderen Wettbewerbern unterscheiden. Die Verfügbarkeit von Ware beispielsweise ist ein Pfund, mit dem offensiv gewuchert werden muss.

Becker: Gerade im C-Teile-Bereich steht der Produktpreis nicht im Fokus, sondern vielmehr die Prozesskosten.

Kontakt Gero Becker, Teamleiter am IFH Köln: g.becker@ifhkoeln.de, T +49 221 943607–0, www.ifhkoeln.de

Kontakt Matthias Steitz, Leiter Business Development, Allgeier IT Solutions GmbH, Bremen: Matthias.Steitz@allgeier-it.de, T +49 421 43841-0, www.allgeier-it.de

Das vollständige Interview finden Sie im Titelbeitrag der Ausgabe TH 7/2019.

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