VTH-Jahrestagung: Wegweisende Antworten Richtung Zukunft
Paragraph 5 des Kölschen Grundgesetz‘ lautet: „Nix bliev wie et wor“. Kaum ein Motto hätte zur diesjährigen VTH-Jahrestagung besser gewählt sein können. Nichts bleibt, wie es war – Veränderung ist das neue Normal im Wirtschaftsleben. Wer 2023 Pläne für dieses Jahr gemacht hat, der hat wahrscheinlich nicht mit einer so schwachen Wirtschaft gerechnet, wie sie sich derzeit darstellt. Und wer 2019 gar einen Fünf-Jahres-Plan aufgestellt hat, der dürfte kaum die Wucht der Wirkung von Künstlicher Intelligenz eingepreist haben, so wie sie sich heutzutage zeigt. Gilt also doch eher das Bonmot des Publizisten Robert Nef „Planung ist der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum“? In der Regel nicht, aber was zunächst nur nach kräftezehrender, dauerhafter Anstrengung klingt, kann auch positiv betrachtet werden. Denn wo ständig alles anders ist (oder zumindest zu sein scheint), sind diejenigen, die offen für Neuerungen sind, klar im Vorteil.
Pre-Opening mit KI-Workshop
Wenn das Leben hinter der nächsten Ecke also mit einer Überraschung lauert, muss das nichts Schlechtes sein. Das zeigte sich auch an einer relativ kurzfristig vorgenommenen Programmänderung der VTH-Jahrestagung. Saal und Zeitfenster waren dankenswerterweise noch frei und so fand nachmittags am Vortag des eigentlichen Tagungstags der Workshop „Sales Intelligence: KI-basierte Vertriebsoptimierung“ statt. Das Interesse war sehr groß, der Versammlungsort fast bis auf den letzten Platz ausgebucht, wie VTH-Hauptgeschäftsführer Thomas Vierhaus bei der Begrüßung erfreut feststellte. Als Referenten konnte er Benedikt Nolte und Matthias Heinrich von der KI-Plattform Plato vorstellen, die den Zuhörern ihr Konzept für den Einsatz einer KI im Großhandelsvertrieb zur Vertriebsoptimierung vorstellten.
Beim Start-up Plato kommt mit Benedikt Nolte einer der Gründer selbst aus dem Fachhandel. Er weiß also aus eigener Erfahrung, worüber er spricht, wenn er sagt, dass jetzt eine gute Phase sei, um im Vertrieb umzudenken und sich vom „reaktiven Abwickler“ zum „proaktiven Verkäufer“ zu entwickeln. Heute kann ein Vertriebler lediglich ein Drittel seiner Zeit zum aktiven Verkaufen nutzen. Dank KI können weitere 20 % gewonnen werden, die effektiv für das eigentliche Ziel genutzt werden können. „Viele Händler glauben, dass ihre Daten nicht KI-bereit sind. Aber das stimmt nicht“, räumten die beiden Referenten mit einem Vorurteil auf. Jedes ERP-System, so ihre These, biete erhebliches Potenzial. Datenhürden gebe es nicht. „Use Cases“, z.B. Abwanderungswarnungen, Up-& Cross-Selling, Nächst-beste Aktion, Prozessautomatisierungen und viele mehr, seien reichlich vorhanden. KI würde in 2 bis 3 Jahren für die Aufgaben im Vertrieb zum Standard, so die Prognose von Plato, wobei aber die nächsten 12 bis 18 Monate entscheiden dürften, wer vorne mitspielt (mehr zu den Lösungen von Plato im Fachbeitrag in TH 9/2024, S. 42; für TH-Abonnenten digital abrufbar unter www.th-digital.com).
Nach dem verheißungsvollen Auftakt am Vortag, der bei einem Abendessen aller bereits angereisten Teilnehmer einen schönen Abschluss fand, waren die Teilnehmer am Haupttag der Tagung gespannt, was der weitere Verlauf bringen würde. Auch in diesem Jahr dem bewährten Prinzip zwei plus zwei folgend, bot das Programm zu Beginn wieder vier fachliche Veranstaltungselemente: drei Impulsvorträge und einen Workshop, die jeweils paarweise parallel stattfanden. Den Auftakt machten Stephanie Maertin (Maertin, Freiburg) und Christian Piel (Piel, Soest) sowie Andreas Seltmann aus Denzlingen. Seltmanns Vortrag stand unter der Überschrift „Mit einem kraftvollen Employer Branding die Richtigen gewinnen und binden“. In manchen Branchen mag das Gewinnen neuer Mitarbeiter angesichts einer stagnierenden Wirtschaft dieser Tage leichter geworden sein, im Technischen Handel eher nicht. Und die Situation wird mittel- bis langfristig vermutlich eher schlechter als besser werden. Deshalb empfahl der Referent, auf ein Employer Branding zu setzen – übersetzt: den Aufbau und die Pflege des eigenen Unternehmens als Arbeitgebermarke. „Eine TOP-Arbeitgebermarke entsteht durch alles, was Sie tun, und alles, was Sie nicht tun“, betonte Seltmann. Dabei gebe es verschiedene Trends und Treiber, die es im Blick zu behalten gelte: demografischer Wandel, Diversität, Digitalisierung, Dekarbonisierung, Gesundheit, Gender Shift, Work-Life-Balance und New Work. Beispiel gefällig: Jeder zweite Vater hat für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf den Arbeitgeber bereits gewechselt oder denkt zumindest darüber nach. Nicht zu unterschätzen sei dabei auch die Rolle der Führungskräfte, so Seltman, die Leuchttürme seien. Gutes Employer Branding sei kein Privileg der Großen. Es gebe zahlreiche Faktoren, in denen kleinere Unternehmen oft sogar überlegen seien.
Mit wachem Auge und gesundem Menschenverstand
Auch beim Thema Nachhaltigkeit hält sich hartnäckig der Standpunkt, dass kleine Firmen großen gegenüber im Nachteil sind, insbesondere auf dem Feld der Berichterstattung. Aber das muss nicht sein, wie die Erfa-Gruppe nach dem Motto „Aus der Praxis für die Praxis“ mit Stephanie Maertin und Christian Piel zeigte. Beide gaben Einblicke in die Nachhaltigkeitsaktivitäten ihrer Unternehmen. Für Stephanie Maertin ist das Thema schon viele Jahre eine Herzensangelegenheit, aus der mittlerweile ein Dauerlauf geworden ist. Ihr Credo: „Einfach mal anfangen.“ Der Start müsse nicht gleich perfekt sein. Schnell ergäben sich Themen, die sogar Geld sparen. Wenn man erst einmal eine gewisse Flughöhe erreicht habe, sei es einfacher, am Ball zu bleiben. Und wenn der erste Nachhaltigkeitsbericht geschafft sei, dann komme man mit vielen wichtigen Stakeholdern wie Behörden und Banken oder auch potenziellen Mitarbeitern leichter ins Gespräch. Auch Christian Piel konnte von ähnlichen Erfahrungen berichten. Wichtig sei es, die Aufgaben mit wachem Auge und gesundem Menschenverstand anzugehen. Für den Nachhaltigkeitsbericht sei eine gute Wesentlichkeitsanalyse maßgeblich. Im Kern gehe es darum zu priorisieren, sich zu fragen: „Wo habe ich die größten Hebel, in Sachen Nachhaltigkeit voranzukommen.“ Thomas Vierhaus, der die Runde moderierte, kommentierte abschließend: „Das Thema Nachhaltigkeit ist für uns noch nicht abgeschlossen und wir werden uns dazu sicher noch einige Male austauschen.“
Beim Thema Vertrieb als Kernfunktion des Technischen Handels gab es in den vergangenen Jahren schon zahlreiche Gedankenaustausche und wird es auch in Zukunft noch viele geben. Ebenso in diesem Jahr, in dem mit Prof. Dr. Christian Schmitz von der Ruhr-Universität in Bochum einer der renommiertesten Experten in der Wissenschaftswelt zum Thema Vertrieb als Referent gewonnen werden konnte. Er zeigte aktuelle Entwicklungen und Gestaltungsansätze auf und versuchte daraus ein Bild für den Vertrieb der Zukunft im Technischen Handel zu zeichnen. In den letzten zehn Jahren hat sich der Vertrieb sehr verändert. Einkäufer im B2B gehen viel restriktiver mit ihrer Zeit um. Es gibt kaum noch direkte Interaktion, was auch daran liegt, dass über 70 % der Einkäufer der Generation Millennials angehören. „The deer has now the gun“, sprich, der Einkäufer bestimmt, wann, wenn überhaupt, verhandelt wird. Die Kanalpräferenzen bestimmen das Verhalten zur Kaufentscheidung. Was bedeutet das für den Vertrieb? 50 bis 80 % des B2B-Kaufprozesses sind abgeschlossen, bevor ein Verkäufer ins Spiel kommt. So gerät die klassische Rollenteilung zwischen Hersteller-Außendienst, Marketing und Handel zunehmend unter Druck. Schmitz ist zuversichtlich, dass die Digitalisierung Wachstums- und Effizienzchancen bietet, was aber gleichzeitig Beweglichkeit der verschiedenen Akteure verlangt, die abzuholen und einzubinden sind. Der 3-stufige Vertrieb stehe aber grundsätzlich nicht infrage, so Schmitz: „Kunden entscheiden sich für das aus ihrer Sicht beste Angebot.“
Als hätte er sich mit Stephanie Maertin abgesprochen, stand der Vortrag von Lasse Meißner (vecovio, Köln) unter der Überschrift „Einfach machen: Ideen für einen nachhaltigen Betrieb!“, wobei sein Augenmerk allerdings insbesondere darauf liegt, Nachhaltigkeit mit so wenig Aufwand wie möglich umzusetzen. Dabei können digitale Lösungen helfen. Nachhaltigkeitsfragen erfordern nach Ansicht von Meißner digitale Antworten, da sie komplex und datenintensiv sind und bestehende Systeme primär finanzielle Kennzahlen fokussieren. vecovio setzt auf Datenbanken, Schnittstellen, Automatisierung, Algorithmen und KI, um Nachhaltigkeit in Prozessen zu verankern. „Die Vereinfachung komplexer Daten im Bereich der Nachhaltigkeit und das Finden einfacher Antworten auf schwierige Fragen sind sowohl unsere Mission als auch unsere Leidenschaft“, lautet die Botschaft. „So gewinnen Unternehmen Handlungsfreiheit und können sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren“, ist Meißner überzeugt.
KI wird die Welt radikal verändern
Mit Spannung wurde der Keynote-Vortrag von Karl-Heinz Land (neuland, Köln) erwartet, der derzeit als einer der wichtigsten KI-Experten des Landes gilt. Die Teilnehmer wurden nicht enttäuscht. Nachdrücklich beschrieb Land, wie Künstliche Intelligenz die Welt verändert – nicht erst in Zukunft, sondern schon jetzt. Seit einiger Zeit macht sich dies auch an den Börsen der Welt bemerkbar, die trotz mauer Wirtschaft stetig neue Rekord-Indizes melden, auch weil die Broker von der KI eine deutliche Produktivitätssteigerung erwarten. Land und andere Auguren sind gar davon überzeugt, dass moderne KI wie in der industriellen Revolution die sozialen, ökonomischen, politischen und ökologischen Bedingungen radikal verändern wird. Produktivitätsschübe von 25 bis 90 % werden erwartet. Um auf dieser Welle mitschwimmen zu können „wird jedes Unternehmen in 3 bis 5 Jahren ein eigenes KI-Modell haben müssen“, so Land. Während Chat-GPT heute noch immer wieder halluziniert, wird es künftig vor allem bei anderen Anwendungen durch Einbettung von Dokumenten „nur präzise Antworten“ geben, glaubt Land. In einer zunehmend komplexeren Welt werde KI für Vereinfachung und Unterstützung sorgen und so Freiräume schaffen. Deshalb komme es künftig darauf an, Energie sinnvoll in Arbeit umzusetzen. Das bedeute auch, Fachkräfte verantwortungsvoll einzusetzen. Von Fachkräftemangel könne dann keine Rede mehr sein, so Land. Zögerlichen Zeitgenossen könnte Lands These Sorgen bereiten: „Unternehmen, die heute nicht in KI investieren, wird es in 5 bis 10 Jahren vermutlich nicht mehr geben!“ Vielleicht überzeugt sie seine Schlussbotschaft: „Haben Sie keine Angst vor der Künstlichen Intelligenz…, aber vor der natürlichen Dummheit.“
Ins Handeln kommen
Zur Begrüßung während der Mitgliederversammlung sprach der VTH-Vorsitzende Mario Ernst (Piel, Soest) kurz über das Buch „Wer wir waren“, das ihn, seit er es das erste Mal in den Händen hielt, beschäftigt, weshalb er sich vorgenommen hatte, seine Eindrücke mit den Kolleg:innen zu teilen. Es handelt sich um einen Redebeitrag von Roger Willemsen, den er mit seinem klaren Blick für die Welt kurz vor seinem Tod 2016 aufgeschrieben hatte. Schon damals formulierte er Denkanstöße, die heute noch passend sind. Sinngemäß zitierte Ernst: „Wenn man in der Zukunft auf die heutige Welt zurückblicken würde, könnte man jenes als Zeitalter identifizieren, wo immer mehr das Denken, das Fühlen und das Handeln auseinandergefallen sind. Wir sind das Zeitalter, wo wir nicht mehr wirken, sondern wo wir meckern.“ Ernst bedauert, dass wir um die Missstände wissen, aber „wir fühlen nicht die Dringlichkeit, etwas zu tun. Warum kommen wir nicht ins Handeln? Warum schaffen wir es nicht, aus dem Kopf, ins Herz, in die Hand zu kommen?“ Was hat das mit dem Technischen Handel zu tun? „Ich stehe hier als Unternehmer, der versucht, auch den Verband nach vorne zu bringen und mit euch gemeinsam Zukunft zu gestalten“, so Ernst. Leider müsse er aber immer wieder feststellen, dass das von Willemsen beschriebene Syndrom, Missstände zu kennen, aber die Dringlichkeit nicht zu fühlen, auch im Technischen Handel verbreitet ist. Der Vorstand des VTH habe sich zur Aufgabe gemacht, die Zukunft des Technischen Handels zu gestalten. Um dabei erfolgreich zu sein, bat Ernst die Mitglieder, den Vorstand auf die Herausforderungen aufmerksam zu machen, die die Branche zu erwarten hat. „Helft uns dabei, ein Programm auf die Beine zu stellen, das uns allen hilft, die Herausforderungen zu meistern. Gebt uns gerne eure Impulse und wir tun unser Bestes, damit wir gemeinsam die Zukunft des Technischen Handels gestalten.“
info@vth-verband.de, T +49 211 44 53 22, www.vth-verband.de
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